Freitag, 28. Februar 2025

Sulgen. Wie die Aktionäre eines führenden Schweizer Nahrungsmittelunternehmens dem Verkauf ihres Herzstücks zustimmten, obwohl sie dadurch wohl ihr ganzes eingesetztes Geld verlieren werden – und warum dieser Verkauf positive Folgen für Sulgen hat.

Es ist noch gar nicht so lange her, da musste sich Ralph Siegl auch Kritik anhören. Der Wirt­schaftsexperte war Anfang 2022 gekommen, um die Hochdorf Holding umzukrempeln. Hochdorf, der traditionsreiche Name steht unter anderem für Milchpulver und Produkte daraus, etwa Bimbosan, eine der beliebtesten Babynahrungsmarken der Schweiz. Unter dem Dach der Holding versammelten sich weitere Firmen, gesamthaft trug die Gruppe erhebliche finanzielle Altlasten mit sich herum, war hochverschuldet. Der neue CEO sollte den Laden wieder richten. Ob ihm, dem populären Berater und erfahrenen Verwaltungsrat mit mehreren Mandaten, dazu der Fokus fehle, weil er auf zu vielen Hochzeiten gleichzeitig tanze, fragte das Newsportal «Inside Paradeplatz» süffisant, und ob er mit der Führung überfordert sei?

Das war vor etwa einem Jahr. Hochdorf hatte gerade bekannt gegeben, das operative Geschäft verkaufen zu wollen. Was den Finanzfachleuten von «Inside Paradeplatz» die Ohren schlackern liess – «Wie konnte es nur so weit kommen?» – war in Wirklichkeit ein Neuanfang, der sich nach intensiver Prüfung sämtlicher Optionen als einziger Ausweg präsentierte.

Verkauf als letzte Chance

Schon damals wurde nicht hinter dem Berg gehalten, dass die Aktie der Holding, die sich sowieso schon im freien Fall befand, durch den Verkauf ihren kompletten Wert verlieren dürfte. Doch, so das Argument von Siegl, der Verkauf würde rund 350 Arbeitsplätze sichern. Hochdorf hätte so eine Zukunft, was nicht zuletzt für einen stabilen Schweizer Milchmarkt von Bedeutung sei. Schliesslich verwertet Hochdorf sieben Prozent der Milchmenge des Landes und ist besonders im milchreichen Frühjahr ein wichtiger Regulierer im Milchmarkt. Es sei die letzte Chance zu retten, was zu retten ist, so der Appell an die Aktionäre, bevor sie im September 2024 über den Verkauf der operativen Tochtergesellschaft Hochdorf Suisse Nutrition AG für 83 Millionen Schweizer Franken abstimmten.

Unter den Aktionären sassen grosse Player der Milchwirtschaft, die Zentralschweizer Milchproduzenten beispielsweise, die knapp 18 Prozent der Gruppe hielten. Letztendlich stimmten fast drei Viertel der Berechtigten für den schmerzhaften, aber unabwendbaren Deal mit der britisch-schweizerischen Investmentfirma AS Equity Partners, die mit dem Kauf auch sämtliche Bankschulden der HSN übernahm.

Die börsennotierte Hochdorf Holding (seit September 2024 umfirmiert zu HOCN Holding AG) indes wird aller Voraussicht nach vom Markt verschwinden. Gegenwärtig befindet sie sich in Nachlassverwaltung. Doch es gibt Forderungen, das Unternehmen an der Börse zu behalten (siehe Kasten).

Ziemlich sicher ist: Der Erlös aus dem Kaufpreis lässt die Aktionäre leer und die Gläubiger weitgehend leer ausgehen. Dafür wird der Name der legendären Milch-«Südi», am 28. Januar 1895 als «Centralschweizerische Natur-Milch-Exportgesellschaft» gegründet, um sterilisierte Milch in Dosen zu verkaufen, dank der neuen Besitzer eine Zukunft haben. Mehr noch, es herrscht richtiggehende «Aufbruchstimmung wie zur Gründungszeit», schrieb die Hochdorf AG (HSN) Anfang Jahr in einem Kommuniqué. Vor allem in Sulgen, denn dort befinden sich weiterhin etwa 200 Arbeitsplätze – Tendenz steigend, da die Produktion noch in diesem Jahr in Sulgen konzentriert wird. In der Innerschweiz bleibt die Administration bestehen.

Investitionen …

«Der Verkauf hat definitiv einen Schalter umgelegt», beschreibt CEO Ralph Siegl auf Anfrage die aktuelle Stimmung im Unternehmen. «Wir wollen den Wind in den Segeln nutzen und vorwärts machen.» Nachdem es mehrere Jahre ums pure Überleben gegangen sei, arbeite man jetzt auf Entwicklung und Wachstum hin. Die neuen Eigentümer setzen im laufenden Jahr Investitionen im zweistelligen Millionenbereich ein, um die Marktentwicklung zu fördern sowie um Technik und Anlagen in Sulgen zu ergänzen. Personell soll das Verkaufsteam verstärkt werden. Bei guter Entwicklung auch das Produktionsteam, so Siegl.

Auch er selbst ist froh: «Wenige haben geglaubt, dass wir überleben. Wir haben ein starkes Team, konnten wichtige Mitarbeiter halten.» Gemeinsam habe man sich in der kritischen Phase des Turnarounds operativ verbessert, die Erwartungen von Kundschaft und Partnern bedienen, die Reputation erhalten können. Siegl sagt stolz: «Wir haben gezeigt, dass wir trotz Krise immer verlässliche Partner waren und mit uns wieder stärker zu rechnen ist.»

Zur guten Stimmung trägt bei, dass 2025 das 130-Jahr-Jubiläum gefeiert wird. Eine Reihe von Aktivitäten sei geplant, über die aber erst später im Jahr informiert werde, teilt Siegl mit. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen? Siegl nickt. Eine besondere Herausforderung in diesem Jahr stelle die Installation von Produktionsanlagen dar, um die Fabrik im Thurgau mit den technischen Kompetenzen aus dem Mutter-Standort Hochdorf auszurüsten. «Wir haben derzeit acht Baustellen auf dem Gelände», berichtet der CEO. Während die Produktion unter höchst sensiblen Hygieneanforderungen weiterläuft, wohlgemerkt. «Das ist wie ein Radwechsel bei fahrendem Auto.»

… und Zukunftspläne

Und stets bleibt der Blick nach vorne gerichtet: Wie im Kommuniqué beschrieben, verfolgt Hochdorf die Vision, moderne Ernährung zu unterstützen und die weltweit führende Schweizer Anbieterin von (milch-)proteinbasierten «Smart Nutrition Solutions» über alle Lebensphasen zu sein. CEO Siegl nennt ein weiteres, bodenständigeres Ziel: «Wir wollen ein verlässlicher Partner für die Schweizer Milch- und Käseproduzenten bleiben.» Er ist sich sicher: «Ohne den Verkauf hätte es schwere Verwerfungen auf dem Markt gegeben – und massenhafte Entlassungen.»

Bleibt Hochdorf doch an der Schweizer Börse? Wer die bisherige Geschichte des Unternehmens spannend fand, wird hier gerne weiterlesen: Die HOCN AG, die Firmenhülle des ehemaligen Milchverarbeiters Hochdorf, sollte eigentlich von der Börse verschwinden. Doch zwei Investoren haben andere Pläne: Sie wollen das Unternehmen übernehmen und womöglich als Sprungbrett für eine andere Firma nutzen, die an die Börse will. Eine ausserordentliche Generalversammlung soll nun über die Absetzung von zwei Verwaltungsräten, eine Kapitalerhöhung und die Aufhebung der Dekotierung entscheiden. Die Zentralschweizer Milchproduzenten indes haben einen Grossteil ihrer Anteile verkauft. Die Nachricht über die geplante Übernahme liess den Aktienkurs kräftig steigen – von 0.37 Franken vorige Woche auf über drei Franken am Dienstagmorgen. 

Gemeinde ist froh «Die Gemeinde Sulgen ist sehr froh, dass die gegen 200 Arbeitsplätze in Sulgen gerettet werden konnten», schreibt Gemeindepräsident Andreas Opprecht auf Anfrage. Man habe das Unternehmen in den letzten Monaten und Jahren insbesondere bei Baugesuchen stets eng begleitet, damit die komplexen und nicht alltäglichen Baugesuche rasch bearbeitet und bewilligt werden konnten.

Stefan Böker