Freitag, 1. September 2023

Kradolf. Das von der Peregrina-Stiftung geführte Durchgangsheim an der Hauptstrasse 19 gewährte am 26. August während sieben Stunden einen Einblick in den Betrieb. Der Tag der offenen Tür stiess in der Bevölkerung auf grosses Interesse. 

Wie kann man Vorurteile widerlegen und Ängste abbauen? Am besten durch persönliche Begegnungen! Ob das in allen Fällen gelingt, sei dahingestellt. Einen Versuch wert ist es allemal; gerade dann, wenn es sich um ein so heikles Thema wie die Unterbringung von Menschen aus anderen Kulturen handelt. Von Menschen also, die anders sprechen, anders handeln und anders fühlen und die sich, was erschwerend hinzukommt, auf der Flucht befinden. Im Thurgau nimmt sich die Mitte der 1980er-Jahre ins Leben gerufene Peregrina-Stiftung dieser Menschen an. Sie führt im Auftrag des Kantons geeignete Unterkünfte für Asylsuchende. Seit Juni auch in Kradolf, wo das ehemalige Wohn- und Pflegezentrum der Tertianum-Gruppe in ein Durchgangsheim umfunktioniert wurde.

Grosses Interesse

Die Möglichkeit, die Liegenschaft und deren neue Bewohnerinnen und Bewohner kennenzulernen, wollen sich am Tag der offenen Tür viele nicht entgehen lassen. Wer sich einen Überblick verschaffen möchte, kann dies auf eigene Faust tun oder an einem geführten Rundgang teilnehmen. Vorgestellt werden die Unterrichts- und die Integrationslektion sowie ein (unbewohntes) Zimmer, und am Nachmittag steht auch ein Quiz auf dem Programm. In der Küche herrscht an diesem Samstag früher als sonst Betrieb und die Töpfe auf dem Herd sind zahlreicher und grösser. Das Rätsel ist schnell gelöst: Gekocht wird an diesem Tag auch für die grossen und kleinen Gäste. Kinder, die sich nicht bis Mittag gedulden wollen, dürfen sich – gewissermassen als Vorkoster – bereits am Vormittag einen Teller mit exotischen Speisen füllen lassen. Zu den Besuchern gehören Nathalie Meierhofer und Werner Keller. Beide sind in Kradolf zu Hause. «Meine jüngste Tochter besucht mit einem Kind aus dem Durchgangsheim den Kindergarten und wir wollen ihm heute einen Besuch abstatten», sagt die junge Mutter. Dass es für die Bewohner einen verpflichtenden Deutsch- und Integrationsunterricht gibt, findet Nathalie Meierhofer richtig. Eine gute Sache sei auch der Tag der offenen Tür. Direkte Kontakte mit Einheimischen erleichterten die Integration ebenfalls, ist sie überzeugt. Werner Keller räumt ein, anfänglich skeptisch gewesen zu sein. Er ist überrascht, dass schon so viele Menschen Aufnahme im Durchgangsheim gefunden haben, denn im Dorf habe er bisher kaum jemanden angetroffen. «Ich finde es gut, dass der Tagesablauf strukturiert ist und die Bewohner mit den Gepflogenheiten in der Schweiz vertraut gemacht werden.» Nach der Besichtigung tritt Werner Keller mit seiner Gattin beruhigt den Heimweg an. Man müsse keine Angst haben, stellt er fest. Das seit 22. Juni bewohnte Durchgangsheim in Kradolf bietet bis zu 80 Personen Platz und gehört somit zu den grössten Einrichtungen dieser Art, die von der Peregrina-Stiftung betrieben werden. Die vormalige Nutzung des Gebäudes erweist sich als Glücksfall, mussten für die neue Zweckbestimmung doch nur wenige bauliche Anpassungen vorgenommen werden. Diese betrafen die Küche und die Duschen. Zudem steht ein parkähnlicher Garten als Aufenthaltsort im Freien zur Verfügung. 

Obligatorischer Unterricht

Beat Keller, Leiter Betreuung und stellvertretender Geschäftsführer der Peregrina-Stiftung, ist vollauf zufrieden: «Solche Unterkünfte sind ideal für uns, und jene in Kradolf ist momentan sicher unsere schönste.» Laut Beat Keller erhalten erwachsene Bewohner wöchentlich 63 Franken Essensgeld und 21 Franken Taschengeld. Sie müssten damit ihren Lebensunterhalt finanzieren, hätten aber das Recht, am Schweizer Gesundheitssystem zu partizipieren. Die Teilnahme am Deutschunterricht und an den Integrationslektionen sei obligatorisch.

Kooperative Gemeinde

Lobende Worte für Kradolf-Schönenberg findet Cyrill Bischof, der Präsident des Peregrina-Stiftungsrats: «Die Gemeinde hat sich vorbildlich verhalten und keinen Widerstand aufgebaut.» Er schätze es sehr, «dass man sich hier der gemeinsamen Verantwortung bewusst ist». Bischof weiss um die gängigen Vorbehalte und Vorurteile und hat dafür bis zu einem gewissen Grad auch Verständnis. Anderseits erinnert er daran, dass Gastfreundschaft ein wichtiger Pfeiler des Christentums sei. Bischof erwartet in Sachen Migration heuer einen «heissen Herbst». Die Situation nehme dramatischere Formen als in den Krisenjahren 2015/16 an, weshalb eine kooperative Haltung seitens der Gemeinden umso grössere Bedeutung habe. Nach den Worten von Gemeindepräsident Heinz Keller gibt das Durchgangsheim bis dato keinen Anlass zu Klagen. Der Betrieb verlaufe ruhig, es gebe kaum Reklamationen und zu strafrechtlich relevanten Vorkommnissen sei es noch nicht gekommen. Um einem Anliegen der Bevölkerung hinreichend Rechnung zu tragen, sei das Sicherheitsdispositiv im Sinne einer präventiven Massnahme nochmals angepasst worden. Laut Heinz Keller bedeutet dies, dass die Zahl der Securitas-Patrouillen erhöht worden ist. Zudem kommt mit Beginn des Monats September im Durchgangsheim auch eine Nachtwache zum Einsatz. 

Sechs Nationen

Am Tag der offenen Tür hat die Auslastung des Heims 75 Prozent betragen. Männer bilden die grosse Mehrheit, es leben aber auch Familien und Frauen ohne Begleitung im Haus. Von den 15 Kindern sind elf schulpflichtig. Die Bewohner sind vom Asylzentrum des Bundes in Kreuzlingen nach Kradolf disloziert und haben den Status N (Verfahren noch nicht abgeschlossen), B (anerkannte Flüchtlinge mit positivem Entscheid) oder VA-A (vorläufig aufgenommene Ausländer). Die in Kradolf untergebrachten Leute stammen aus Afghanistan, Burundi, Pakistan und Tschetschenien sowie aus der Türkei und der Ukraine. Die Aufenthaltsdauer in einem Durchgangsheim beträgt in den meisten Fällen rund ein halbes Jahr. Dann erfolgt die Zuteilung in eine Gemeinde.

Georg Stelzner